Vollendetes Bildnis
Vor dem rahmenlosen Schminkspiegel sitzend zwirbelte sie sich das braune Haar zweimal am Hinterkopf zu einem lieblosen Knoten, bevor sie es mit einer Spange befestigte.
Ein paar Strähnen hatten sich schon gelöst, bevor sie sich noch einmal prüfend betrachten konnte. Das Handy neben ihr blinkte kurz auf.
Sie nahm es wahr, wie die losen Strähnen und überlegte doch viel zu lange ohne zu reagieren.
Es war eine schöne Zeit gewesen. Ganz bestimmt für ihn.
Mit Bangen und klopfendem Herzen hatte sie immer und immer wieder auf ihn gewartet und seine Nachrichten waren in manch einsamer Nacht das erlösende Seelenheil gewesen, welches ihr etwas Schlaf brachte.
Sie schien wochenlang mit dem Handy verwachsen zu sein und doch wusste sie, dass sie abkömmlich für ihn war. Ein Zustand, der sich in all der Zeit auch nie ändern würde.
Mit ihrer Zuneigung zu ihm wuchs auch ihr emotionaler Masochismus ins Unermessliche. Ihr Gedanken, die nur um ihn kreisten entwickelten sich zu übergroßen, prunkvollen Luftschlössern ohne Netz und doppelten Boden. Oft fiel sie hinunter, niemand fing sie auf.
In den Momenten, in denen Liebeslieder durch ihren Gehörgang in ihren Venen flossen und ihr Herz erreichten, dachte sie, ihre Geduld und ihre Zuneigung kenne keine Grenzen.
Nachts im Bus trat sie gegen den Vordersitz im Rhythmus der Melodien mit und die Winternächte schmeckten bitter wie Blut.
Und wenn sie fror, dann hielt der Gedanke an eine kalte Lüge sie warm.
Was es war, dass sie so an ihm liebte, wusste sie nicht.
Manchmal fühlte sie sich bei ihm wohl. Manchmal dachte sie, sie müsste sich bei ihm wohl fühlen.
Und die Zärtlichkeit, die er ihr Abends zuteil werden ließ war ehrlich, bis er ihr zeigte, wo die Haustür war.
Die Zeit verging und die Wunden wurden größer. Und keine seiner Liebesgeschichten und keine seiner ihr zweifelhaft scheinenden Verhaltensweisen konnte sie abschrecken.
Sie liebte. Und wusste nicht warum. Und fragte nicht warum.
Einmal, an einem Abend wie diesen, wo sie ihr Haar zu einem lieblosen Knoten zusammenzwirbelte und sich mit einem eiskalten Hemingway Sour die Zeit vertrieb, sagte ihre Freundin, „Es sei doch nur sein Selbstbewusstsein, welches so anziehend wirkte.“
Sie dachte nicht über die Worte nach, zuckte mit den Schultern und erkannte, dass der Cocktail immer saurer schmeckte.
Noch einmal traf sie sich mit ihm. Noch einmal dachte sie, dass sie diese Art der Zuneigung verdiente.
Ein paar Küsse zu viel, ein paar Worte zu wenig. Im Bus roch es nach Blut.
Dann fiel ihr auch sein Selbstbewusstsein auf, dass sie selber nicht besaß.
Ihr Bildnis von ihm war vollendet. Nachdem sie vom Bett aufstand, löste sie den Knoten aus ihrem Haar. Er sah sie nicht an.
Und sie wusste, dass sie ihn nicht mehr liebte.