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Exzess
Nachts, wenn ich dachte, alle schlafen schon, zu dieser Uhrzeit bin ich meist heim gekommen. Ich habe mir extra viel zeit auf dem Nachhauseweg genommen, bin den Umweg gelaufen, nicht an den illuminierten Schaufenstern vorbei, die mich selbst Nachts noch in bunten Farben anschreien. Ich habe den Weg am Fluss entlang genommen, zwischen den Wohnhäusern hindurch, ganz allein, ganz heimlich. Leise und heimlich. Kein Geräusch will ich machen, weiß ich aber doch, dass die Großmutter um diese Uhrzeit trotzdem noch wach ist. Sie steht auch wie erwartet an der Tür, ich entledige mich meiner Schuhe, etwas unbeholfen, bevor ich die schmale Treppe nach oben betrete. Sie lächelt und wünscht mir eine Gute Nacht. Eine liebe Seele. Ich kann nur verlegen zurück lächeln. Diese liebe Seele ist schon fast 80 Jahre alt und doch so verständnisvoll. Verständnisvoll für meine Exzesse.
excedere — heraustreten, über etwas hinausgehen
“Exzess.” Ich musste den Begriff nachschlagen, weil es ein Wort ist, was andere mir immer aufgedrückt haben. Ein Begriff, den ich für mich selber nie wahrgenommen habe, ein Begriff, mit dem ich mich nicht identifizieren konnte.
Aus meiner Oberstufenzeit erinnere ich mich an den Latein-Unterricht, excedere — heraustreten, über etwas hinausgehen.
Oft bin ich herausgetreten, nachts, komplett verändert, mit Kleidung, die mich am Tag zuvor noch 80 Euro gekostet hat und einer Frisur und einem Make-up, was sich seinesgleichen sucht.
Über etwas hinausgehen, über seine Kräfte gehen, über die eigenen Vorstellungen gehen — das war für mich wohl…